Kartellrecht und Fusionskontrolle09.06.2022 Newsletter

Aktualisierte kartellrechtliche Rahmenbedingungen für den Vertrieb: 7 Punkte die sich für Unternehmen jetzt ändern

Die EU hat die Regeln des Vertriebskartellrechts grundlegend reformiert: Nach einer hitzigen Debatte ist am 1. Juni 2022 die neue Gruppenfreistellungsverordnung (Vertikal-GVO) in Kraft getreten. Seitdem gelten auch die neuen Vertikal-Leitlinien (EN) der EU Kommission. Unternehmen haben bis zum 31. Mai 2023 Zeit, ihre Vertriebsverträge auf die neuen Regeln hin zu überprüfen und ggf. anzupassen.

Die neuen Regelungen gelten für Vereinbarungen zwischen Lieferanten und Abnehmern. Diese stehen seit jeher im Fokus des Kartellrechts, insbesondere, wenn sie Händlern Verkaufsbeschränkungen/-kriterien auferlegen. Die Vertikal-GVO gewährt Unternehmen einen sog. „Safe Harbour“ und stellt wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen unter bestimmten Voraussetzungen (u.a. 30 % Marktanteilsschwelle) vom Kartellverbot frei.

Wir haben Ihnen die wichtigsten Änderungen in sieben Punkten nachfolgend zusammengefasst:

Punkt 1: Besserer Schutz des Vertriebssystems

Die neue Vertikal-GVO passt sich an die heutigen Bedürfnisse der Vertriebssysteme an. Unter anderem werden wichtige Klarstellungen zum Schutz vor Grauimporten aufgenommen: Anbieter/Lieferanten können ihre Alleinvertriebsgebiete gegen aktive Verkäufe von Händlern aus anderen Vertriebsgebieten schützen. Selektive Vertriebssysteme wiederum können gegen aktive und passive Verkäufe von Händlern aus anderem Vertriebsgebieten geschützt werden. Die EU Kommission präzisiert in ihren Leitlinien auch die Definitionen des aktiven und passiven Verkaufs, unter anderem die Bedeutung des aktiven Verkaufs im E-Commerce: Für einen aktiven Verkauf genügt beispielsweise die Verwendung einer Top-Level-Domain, die einem spezifischen Gebiet entspricht, oder das Angebot einer Sprachoption auf der Webseite des Händlers, die sich von der üblichen Sprache am Niederlassungsort des Händlers unterscheidet.

Neu ist auch, dass der Anbieter nun bis zu fünf Vertriebshändler pro Alleinvertriebsgebiet oder Kundengruppe ernennen darf, ohne dass diese Gebiete/Kundengruppen ihren „Exklusiv“-Status und damit ihren Schutz vor aktiven Verkäufen verlieren. Bislang durfte ein Anbieter jedes Gebiet oder jede Kundengruppe nur einem einzigen Abnehmer exklusiv zuweisen. Außerdem kann der Anbieter nun nicht nur seinen Abnehmern den aktiven Verkauf in Alleinvertriebsgebiete oder exklusiv zugewiesene Kundengruppen verbieten, sondern kann auch von seinem Abnehmer verlangen, dass diese wiederum ihren Direktkunden (2. Vertriebsstufe) den aktiven Verkauf in Alleinvertriebsgebiete und an exklusiv zugewiesene Kundengruppen untersagen.

Punkt 2: Neue Regelungen für den E-Commerce

Vereinbarungen, die eine Verhinderung der tatsächlichen Nutzung des Internets für den Verkauf bezwecken, oder die die Nutzung von Online-Werbekanälen vollständig hindern, werden als unzulässiges „No Go“ (sog. Kernbeschränkung) definiert. Allerdings kann ein Verbot von Online-Marktplätzen (Plattformverbot) nun nach der neuen Vertikal-GVO von dieser Kernbeschränkung freigestellt sein. Das ist eine wichtige Klarstellung, da diese Frage lange umstritten war. Der Abnehmer muss allerdings weiterhin die Möglichkeit haben, seinen eigenen Online-Shop zu betreiben und online zu werben.

Dem gegenüber darf die Verwendung von Preisvergleichsdiensten nicht verboten werden. Der Anbieter kann von seinen Abnehmern allenfalls bestimmte Qualitätsstandards bei der Nutzung von Preisvergleichsdiensten verlangen. Diese Qualitätsanforderungen dürfen aber nicht dazu führen, dass die Verwendung von Preisvergleichsdiensten faktisch per se ausgeschlossen wird.

Außerdem dürfen Anbieter nunmehr Doppelpreissysteme(dual pricing) verwenden und somit unterschiedliche Großhandelspreise für Online- und Offline-Verkäufe desselben Händlers festsetzen. Der Preisunterschied muss allerdings in einem angemessenen Verhältnis zu den unterschiedlichen Kosten oder Investitionen zwischen den Online- und Offline-Vertriebskanälen stehen.

Schließlich ist die EU Kommission auch vom Grundsatz des Äquivalenzprinzips abgerückt: Verkaufskriterien für den Online-Vertrieb müssen nun nicht mehr gleichwertig mit Kriterien sein, die für den Offline-Vertrieb gelten. Anbieter können zugelassenen Händlern im Rahmen eines selektiven Vertriebssystems also künftig unterschiedliche Qualitätskriterien für den Online- und Offline-Vertrieb auferlegen. Die Kriterien für Online-Verkäufe dürfen allerdings in Summe nicht dazu führen, dass der Online-Vertrieb vollkommen unattraktiv wird und damit eine unzulässige Internetvertriebsbeschränkung „durch die Hintertür“ erfolgt.

Punkt 3: Klarere Bedingungen für Online-Plattformdienste

  • Online-Vermittlungsdienste gelten nun regelmäßig als Anbieter i.S.d. Vertikal-GVO. Daraus folgt, dass Verträge zwischen Anbietern von Online-Vermittlungsdiensten und ihren Abnehmern/Nutzern künftig grundsätzlich in den Anwendungsbereich der Vertikal-GVO fallen. Das heißt auf der einen Seite, dass (Verkaufs)Beschränkungen in diesen Verträgen zwar grundsätzlich von der Freistellungswirkung der Verordnung profitieren können, dass sie aber andererseits auch an deren Regeln gebunden sind.
  • Praktische Konsequenzen hat dies vor allen Dingen im Bereich der sog. Paritätsklauseln (auch Best-Price-Klauseln/Meistbegünstigungsklauseln genannt), die sich oft in Nutzungsverträgen von Online-Vermittlungsdiensten finden. Die neue Vertikal-GVO unterscheidet zwischen „weiten“ und „engen“ Paritätsverpflichtungen. Nicht vom Kartellverbot freigestellt sind die weiten Paritätsvereinbarungen. Dem Abnehmer von Online-Vermittlungsdiensten kann also nicht verboten werden, Waren oder Dienstleistungen über konkurrierende Online-Plattformen zu günstigeren Bedingungen anzubieten oder zu verkaufen. Freistellungsfähig sind dagegen „enge“ Paritätsklauseln. Demnach kann ein Online-Vermittlungsdienst seinen Nutzern untersagen, die Leistung oder Ware im (eigenen) Direktvertrieb günstiger als auf der Plattform anzubieten.
  • Wichtig zu wissen: „Hybride“ Plattformen wie Amazon oder Zalando, die mit ihren Nutzern der Vermittlungsdienste beim Verkauf der vermittelten Waren oder Dienstleistungen im Wettbewerb stehen, unterfallen nicht dem Anwendungsbereich der neuen Vertikal-GVO. Ihre Verträge über Online-Vermittlungsdienste profitieren daher grundsätzlich nicht von der Freistellungswirkung der Vertikal-GVO.

Punkt 4: Dualer Vertrieb

Die „Safe Harbour“-Regelungen der Vertikal-GVO bleiben – entgegen früherer Überlegungen der EU Kommission – auch in Situationen des dualen Vertriebs weiterhin anwendbar. Anbieter, die auf der Vertriebsstufe im direkten Wettbewerb zu ihren Abnehmern stehen, weil sie sowohl auf der vorgelagerten Marktstufe (z.B. als Hersteller) als auch auf der nachgelagerten Vertriebsstufe (z.B. als Einzelhändler) tätig sind, können also weiterhin duale Vertriebssysteme aufbauen und betreiben, ohne dass die Chance auf eine Freistellung nach der Vertikal-GVO verlustig geht. Das gilt grundsätzlich auch für Importeure und Großhändler.

Im Rahmen des zwischen Anbieter und Abnehmer stattfindenden Informationsaustauschs ist allerdings weiterhin Vorsicht geboten. Vom Kartellverbot freigestellt ist nur der Austausch solcher Informationen, die mit der Durchführung der Vertriebsvereinbarung unmittelbar zusammenhängen und für diese erforderlich sind. Das wiederum ist abhängig von der Art des Vertriebssystems. Beispielsweise kann es in einem selektiven Vertriebssystem erforderlich sein, dass Händler und Hersteller Informationen über die Einhaltung der Autorisierungskriterien austauschen. In einem Alleinvertriebssystem kann wiederum der Austausch über Verkaufsaktivitäten in bestimmten Exklusivgebieten erforderlich sein.

Hilfestellung geben die neuen Leitlinien der EU Kommission: Dort sind nun konkrete Beispiele für zulässigen und unzulässigen Informationsaustausch aufgezählt (Leitlinien, Rn. 99 f.). Unproblematisch sind demnach in der Regel Informationen über technische oder logistische Daten (z.B. Retouren, Registrierung von Produkten, etc.). Problematisch ist dagegen u.a. ein Austausch über zukünftige Verkaufspreise oder spezifische Kundendaten.

Punkt 5: Wichtige Klarstellungen zur Preisbindung der zweiten Hand

Die Preisbindung der zweiten Hand bleibt weiterhin verboten. Der Anbieter darf daher den Abnehmer nicht dazu verpflichten, oberhalb eines vom ihm festgesetzten Mindestpreises zu verkaufen. Die neuen Leitlinien der EU Kommission sehen darüber hinaus einige Klarstellungen vor. Wichtig ist insbesondere die Positionierung der EU Kommission zu sogenannten Mindestpreisrichtlinien (Minimum Advertised Prices), die es dem Händler verbieten, Preise unterhalb eines von Anbieter festgelegten Betrages zu bewerben. Sie stuft die EU Kommission grundsätzlich als eine verbotene indirekte Preisbindung der zweiten Hand ein.

Maßnahmen zur Preisbeobachtung(price monitoring) und Preisnotierung (price reporting) werden allerdings nicht per se als unzulässige Preisbindung der zweiten Hand eingestuft. Ebenfalls stellt die EU Kommission klar, dass eine zeitlich eng begrenzte Preisbindung für die Einführung eines neuen Produkts auf den Markt wettbewerbsfördernd und damit zulässig sein kann. Die Kommission betrachtet außerdem Preisbindungen dann wohlwollend, wenn sie genutzt werden, um der Verwendung eines Produkts als „loss leader“ (Lockwirkung) entgegen zu wirken. Denn der regelmäßige Verkauf unter dem Großhandelspreis durch einen Händler kann das Markenimage des Produkts nachhaltig schädigen und den Anreiz des Anbieters auf Investitionen minimieren. In diesem Fall können gezielte Preisbindungsmaßnahmen gegen den betroffenen Händler ausnahmsweise gerechtfertigt sein. Maßnahmen zur vertikalen Preisbindung sollten jedoch immer einer fundierten rechtlichen Prüfung unterzogen werden.

Punkt 6: Wettbewerbsverbote

Wettbewerbsverbote, die sich über einen Zeitraum von fünf Jahren hinaus stillschweigend verlängern, sind künftig unter der Vertikal-GVO freistellbar. Hierfür muss jedoch der Abnehmer die Möglichkeit haben, die Vereinbarung zu kündigen oder mit einer angemessenen Kündigungsfrist und zu angemessenen Kosten neu aushandeln zu können. Es soll damit gewährleistet werden, dass der Abnehmer den Anbieter nach fünf Jahren tatsächlich wechseln kann.

Punkt 7: Nachhaltigkeit und Vertrieb

Die EU Kommission unterstreicht in ihren neuen Leitlinien, dass Nachhaltigkeit ein vorrangiges Ziel der Unionspolitik ist. Eine vertikale Vereinbarung, die nicht durch die Vertikal-GVO freigestellt ist, aber Nachhaltigkeitsziele verfolgt, kann daher die Voraussetzungen für eine Einzelfreistellung nach Art. 101 Abs. 3 AEUV erfüllen. Nachhaltigkeitsziele können insbesondere im Rahmen eines selektiven Vertriebssystems als qualitative Kriterien auferlegt werden. Eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Spannungsfeld Kartellrecht und Nachhaltigkeit, wie sie in dem Entwurf zu den neuen Horizontal-Leitlinien 2022 zu finden ist (vgl. hierzu bereits unseren Beitrag), lassen aber die neuen Vertikal-Leitlinien vermissen.

Fazit und To Dos

Die Kommission hat mit der neuen Vertikal-GVO und den neuen Vertikal-Leitlinien die „Safe Harbour“-Regelungen in vielen Bereich grundlegend angepasst. Der neue Rechtsrahmen bietet einerseits neue Perspektiven und Möglichkeiten, nimmt andererseits aber auch bestimmte Regelungen von der Möglichkeit einer Gruppenfreistellung aus. Insgesamt bietet die neue Vertikal-GVO Unternehmen – und insbesondere Markenherstellern – aber mehr Möglichkeiten. Unternehmen sollten dies nutzen und ihre Vertriebsstrukturen gegebenenfalls anpassen. Es gilt zu beachten, dass die Regeln der alten Vertikal-GVO nur noch bis zum 31. Mai 2023 fortwirken. Danach müssen Vertriebsverträge der neuen Rechtslage entsprechen. Bestehende Verträge sollten daher möglichst zeitnah auf ihre Vereinbarkeit mit dem neuen EU-Vertriebskartellrecht überprüft werden.

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Dr. Daniel Dohrn

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