Digital Business, Handel und Konsumgüter31.10.2022 Veröffentlichungen

Modernisierung des Produkthaftungsrechts: EU-Kommission legt neuen Richtlinienentwurf vor

Die EU plant konkrete Schritte zur Modernisierung des Produkthaftungsrechts und damit zur weiteren Stärkung des Verbraucherschutzes. Die in die Jahre gekommene EU-Produkthaftungsrichtlinie, auf der das deutsche Produkthaftungsgesetz basiert, soll insbesondere der fortgeschrittenen Digitalisierung, den Entwicklungen im Bereich der künstlichen Intelligenz und der immer verbreiteteren Circular Economy Rechnung tragen.

Die verschuldensunabhängige, gesetzlich zwingende Produkthaftung gegenüber Geschädigten ergänzt zivilrechtlich das öffentlich-rechtliche Produktsicherheitsrecht, das ebenfalls gegenwärtig auf EU-Ebene überarbeitet wird. Dabei betont die EU-Kommission in ihrem neuen Richtlinienentwurf, einen Interessenausgleich zwischen Industrie und Verbrauchern anzustreben. Sie weitet allerdings das Haftungspotenzial für Unternehmen deutlich aus. So geht die EU-Kommission selbst in ihrem Entwurf von – wenn auch nach ihrer Auffassung lediglich moderat – steigenden Versicherungsprämien für Unternehmen aus, wenn diese sich zukünftig gegen Produkthaftungsrisiken absichern wollen. 

Die wohl bedeutsamsten Änderungen und Neuerungen sind unseres Erachtens folgende:

Ausweitung des Produktbegriffs auf Software

Zukünftig soll Software, egal ob als Standalone-Produkt oder integriert in ein physisches Produkt, unter den Produktbegriff fallen. Ausgenommen hiervon sind nur der Quellcode als reine Informationen sowie Open Source Software. Dadurch werden smarte Produkte, IoT, 3D-Druck, automatisierte Fahrzeuge etc. in den Anwendungsbereich der verschuldensunabhängigen Haftung einbezogen.

Erweiterung der Definition von „Fehlerhaftigkeit“

Um einen Schadenersatzanspruch zu begründen, muss ein Produkt fehlerhaft sein. Nach geltendem Recht sind dabei Darbietung, der Gebrauch, mit dem billigerweise zu rechnen ist sowie der Zeitpunkt des Inverkehrbringens des Produkts zu berücksichtigen. 

Dieser Katalog wird sich künftig deutlich erweitern. Die EU-Kommission schlägt beispielsweise vor, dass auch relevant sein soll, ob das Produkt in der Lage ist, weiter zu lernen, nachdem es auf den Markt gebracht wurde und nimmt damit das Thema KI auf. Auch die einschlägigen Anforderungen an die Produktsicherheit einschließlich der Anforderungen an die Cybersicherheit werden im Richtlinienentwurf als zu berücksichtigende Faktoren ausdrücklich genannt. Das gilt ebenso für die Tatsache, ob früher bereits ein Produktsicherheitsproblem aufgetreten ist, bei dem eine Regulierungsbehörde oder ein sonstiger Wirtschaftsbeteiligter eingegriffen hat. 

Durch einen zusätzlichen Verweis auf den Erwartungshorizont des Verbrauchers, für den das Produkt bestimmt ist, könnte der europäische Gesetzgeber darüber hinaus eine subjektive Komponente in die Bewertung der möglichen Fehlerhaftigkeit eines Produkts einführen.   

Haftung auch für überholte und aufgewertete Produkte

Initiativen der Circular Economy sollen gestärkt werden, indem Verbrauchern bei fehlerhaft modifizierten Produkten ein Recht auf Entschädigung eingeräumt wird. Produkte sollen haltbarer, wiederverwendbar, reparierbar und aufrüstbar sein. Führt eine Änderung am Produkt zu einem Fehler, muss der Hersteller dafür haften, es sei denn, das Produkt wird außerhalb seiner Kontrolle wesentlich verändert. In diesem Fall gilt derjenige, der das Produkt modifiziert, als neuer Hersteller. 

Erweiterung der Liste von potenziellen Anspruchsgegnern

Neben dem Importeur von Waren eines Herstellers außerhalb der EU soll nach dem Willen der EU-Kommission zudem jeder Bevollmächtigte des Herstellers für Produktschäden haftbar gemacht werden können. Darüber hinaus kann subsidiär sogar ein Fulfillment-Dienstleister, d. h. Lager-, Verpackungs- und Versanddienstleister, in Anspruch genommen werden.
Unter bestimmten Umständen können bereits nach geltendem Recht auch Händler in die Haftung genommen werden. Dies soll durch die neue Richtlinie auf Anbieter von Online-Marktplätzen ausgedehnt werden. 

Erweiterung des Schadensbegriffs

Zwar sind nach der Rechtsprechung psychische Gesundheitsschäden grundsätzlich als ersatzfähiger Schaden bereits anerkannt. Nach dem Richtlinienentwurf wird eine Schädigung der psychischen Gesundheit aber nun explizit als Form eines Schadens genannt und damit aufgewertet. Auch Verlust oder Beeinträchtigung von Daten, die nicht ausschließlich für den beruflichen Gebrauch bestimmt sind, sollen nun ebenfalls zu einem ersatzpflichtigen Schaden führen können. Der Richtlinienentwurf grenzt dies von einer möglichen Haftung von Auftragsverarbeitern und Verantwortlichen nach der DSGVO für materiellen und immateriellen Schaden durch eine die DSGVO verletzende Datenverarbeitung ab. 

Sachschäden an anderen Gegenständen als dem defekten Produkt selbst sollen nicht mehr nur bei hauptsächlich privatem Ge- oder Verbrauch der beschädigten Sache von der Produkthaftung umfasst sein. Zukünftig fällt nur ausschließlich gewerblich genutztes Eigentum aus dem Anwendungsbereich der Richtlinie heraus. 

Streichung des Schwellenwertes von 500 Euro und der Haftungshöchstsumme von 85 Mio. Euro

Der Schwellenwert von 500 Euro bei reinen Sachschäden sowie die Haftungshöchstsumme von 85 Mio. Euro bei Personenschäden durch ein Produkt oder gleiche Produkte mit demselben Fehler sind im Entwurf für die überarbeitete Richtlinie nicht mehr enthalten. Der Wegfall der Bagatellgrenze könnte gerade in Zusammenschau mit der Umsetzung der EU-Richtlinie über kollektive Rechtsdurchsetzungsverfahren (RL (EU) 2020/1828), die spätestens ab Juni 2023 in Deutschland Verbandsklagen ermöglichen wird, zu erheblichen Veränderungen in der Prozesslandschaft führen. Denn dadurch werden Quasi-Sammelklagen durch Verbrauchergruppen ermöglicht, die auch die Verfolgung nur geringer finanzieller Ansprüche attraktiv macht. 

Verlängerung der Haftungshöchstzeit

Gegenwärtig können zehn Jahre nach Inverkehrbringen eines fehlerhaften Produkts keine Ansprüche mehr geltend gemacht werden. Das soll mit der neuen Richtlinie geändert werden. Sie sieht eine Ausnahmeregelung für den Fall vor, dass der Geschädigte wegen der Latenzzeit eines Personenschadens nicht in der Lage war, innerhalb von zehn Jahren ein Verfahren einzuleiten. In diesem Fall erhöht sich die Haftungshöchstzeit auf 15 Jahre. Hierdurch entstehen erhebliche zusätzliche Verpflichtungen für Unternehmen hinsichtlich der Aufbewahrung von Unterlagen und Dokumentation.

Neue Beweislastregelungen

Als weiteres Novum sieht der Entwurf vor, widerlegbare Tatsachenvermutungen einzuführen, um die Beweisschwierigkeiten für die Geschädigten in bestimmten Fällen zu erleichtern. Zwar muss der Geschädigte nach wie vor nachweisen, dass das Produkt fehlerhaft war. Nach dem Willen der EU-Kommission soll jedoch die Fehlerhaftigkeit widerleglich vermutet werden, wenn (i) der in Anspruch Genommene seine nach dem neuen Produkthaftungsrecht bestehenden Informationspflichten nicht erfüllt oder (ii) der Geschädigte nachweist, dass das Produkt nicht den relevanten Sicherheitsanforderungen entsprochen hat oder (iii) der Schaden durch eine offensichtliche Fehlfunktion beim normalem Gebrauch verursacht wurde. Ebenso soll Kausalität zwischen der Fehlerhaftigkeit eines Produkts und einem Schaden widerleglich vermutet werden, wenn das Produkt nachgewiesenermaßen defekt ist und die Art des Schadens typischerweise mit einem solchen Defekt zusammenhängt. 

Ferner werden die Fehlerhaftigkeit, der Kausalzusammenhang zwischen Fehlerhaftigkeit und Schaden oder sogar beides vermutet, wenn ein Gericht zu der Auffassung gelangt, dass es für den Geschädigten aufgrund der technischen oder wissenschaftlichen Komplexität übermäßig schwierig ist, die Fehlerhaftigkeit des Produkts oder den Kausalzusammenhang zwischen dessen Fehlerhaftigkeit und dem Schaden nachzuweisen. Voraussetzung hierfür soll allerdings sein, dass der Geschädigte nachweist, dass das Produkt zur Schadensentstehung beigetragen hat und dass das Produkt wahrscheinlich defekt war oder dass eine Fehlerhaftigkeit des Produkts wahrscheinlich zum erlittenen Schaden geführt hat.

Stärkere Offenlegungspflichten der in Anspruch genommenen Partei

Hat der Geschädigte ausreichend dargelegt und bewiesen, dass sein geltend gemachter Anspruch auf Schadenersatz plausibel erscheint, sollen nach dem Richtlinienentwurf die nationalen Gerichte anordnen dürfen, dass der Beklagte die ihm zur Verfügung stehenden einschlägigen Beweismittel offenlegt. Dabei soll sich die Offenlegungspflicht allerdings auf das Notwendige und Angemessene beschränken, ggf. unter Wahrung von Geschäftsgeheimnissen.

Nach Vorlage des Entwurfs durch die EU-Kommission beschäftigen sich als nächstes das Europäische Parlament und der Rat der EU mit dem Richtlinienentwurf. Sobald die Richtlinie in Kraft getreten ist, ist die Übergangszeit allerdings vergleichsweise kurz. Die Mitgliedstaaten sollen laut Entwurf lediglich zwölf Monate Zeit zur Umsetzung ins nationale Recht haben. In der Zwischenzeit sollten sich vor allem Technologieunternehmen, Online-Marktplätze und Fulfillment-Dienstleister mit den anstehenden Neuerungen vertiefter auseinandersetzen und prüfen, wie sie sich auf ihr Geschäft und ihr Risikoprofil in Bezug auf die Produkthaftung auswirken.
 

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Dr. Hanna Schmidt

Dr. Hanna Schmidt

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