Kartellrecht und Fusionskontrolle12.12.2023 Newsletter
Digital Compliance: Kartellscreening
Kartelle werden schon lange nicht mehr ausschließlich auf der Autobahnraststätte geschmiedet. 2017 hatten wir in einem Beitrag die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Kartellrechts-Compliance beleuchtet („Kartellrecht 4.0“). Seitdem hat es mehrere Fälle „digitaler Kollusion“ gegeben, die von Kartellbehörden weltweit aufgegriffen und teilweise auch sanktioniert wurden.*
Mit diesem letzten Beitrag aus unserer aktuellen Reihe „Digital Compliance“ wollen wir uns der digitalen Kartellrechts-Compliance in Form sogenannter „Kartellsceening-Tools“ widmen.
Grundlagen algorithmusbasierter Kartellrechts-Compliance
Kartellscreenings sind eine Methode zur automatischen Erkennung von Kartellverstößen, indem sie Daten auf wettbewerbliche Unregelmäßigkeiten hin untersuchen. Sie sind damit Teil der „reaktiven Überprüfung“ (lesen Sie zu dieser Unterscheidung bereits unseren Teil I der Beitragsreihe). So klar das Ziel des Kartellscreenings ist, so vielfältig gestaltet sich seine Umsetzung.
Eine erste Unterscheidung wird bei der Frage getroffen „Was wird untersucht?“. Eine Methode ist das sogenannte Strukturscreening. Algorithmen analysieren die Struktur bestimmter Märkte und decken Anomalien auf („Anomaly Detection“). Diese werden dann auf Faktoren untersucht, von denen bekannt ist, dass sie kartellrechtswidrige Absprachen fördern oder aufrechterhalten. Der Vorteil dieser Art des Screenings ist, dass bereits aggregierte Daten für die Analyse ausreichen. Dies mindert jedoch die Zuverlässigkeit des Outputs. Die Methode des Verhaltensscreenings setzt dagegen auf individuelle Daten der Marktteilnehmer und beurteilt das Verhalten einzelner Unternehmen auf dem Markt. Vorteilen in der Genauigkeit des Ergebnisses stehen allerdings notwendige komplexe statistische Tests gegenüber.
Auch bei der Frage „Wie wird untersucht?“ kann differenziert werden. Die klassischen Algorithmen sind derzeit die einfachste und geläufigste Methode. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass der Programmierer im Vorhinein feste Regeln aufstellt und so bildlich ein Netz aus Filtern implementiert. In der Anwendung durchlaufen die ausgesuchten Daten diese Filter und ermöglichen so die Beurteilung, ob sich Anzeichen auf Kartellabsprachen finden lassen oder nicht.
Komplexer wird es beim Einsatz von künstlicher Intelligenz. Der Programmierer trainiert ein Programm, das selbstständig erkennt, anwendet und sich laufend verbessert (sog. „Machine Learning“). Damit solche selbstlernenden Programme funktionieren, benötigen sie zahlreiche Daten. Damit die KI bestimmte Muster erkennen, anwenden und weiterentwickeln kann, muss sie mit ausreichend Informationen „gefüttert“ werden. Daten, die verlässlich darstellen, wann ein bestimmtes Marktverhalten auf wettbewerbsbeschränkendes Verhalten rückschließen lässt und wann nicht, sind also das Lernmaterial für solche Programme.
Die Funktionsweise von Kartellscreening-Programmen
Ein prominentes Beispiel für den Einsatz von digitalen Kartellscreening-Tools in der Praxis, ist das von der Deutschen Bahn AG zum Aufspüren von Bieterkartellen entwickelte Kartellscreening-Programm. Zum Einsatz kommen Algorithmen, die ein Verhaltensscreening auf dem zu untersuchenden Bietermarkt vornehmen.
Das Verfahren bei solchen Screening-Programmen lässt sich üblicherweise in mehrere Phasen einteilen (vgl. hierzu im Einzelnen Gillhuber/Kauermann/Hauner (Hrsg.), Künstliche Intelligenz und Data Science in Theorie und Praxis, Springer Spektrum, 2023, S. 267 ff.). In einer ersten Phase werden nach einem bestimmten Schema die notwendigen Daten gleich einem digitalen Fließband aufgearbeitet, selektiert und automatisch in die nächste Phase eingespeist (sog. „Datenpipeline“). Da nur vorher kategorisierte Datenarten für die Beurteilung notwendig sind (etwa Daten zum Bieter oder Höhe des Gebots), wird der Prozess der Analyse so effizienter. Dieser Schritt dient auch der Automatisierung und ist daher für Unternehmen zu Compliance-Zwecken besonders attraktiv. Hierdurch kann eine konstante Überprüfung vorgenommen werden.
In der zweiten Phase findet die eigentliche Analyse statt. Dabei ist es möglich, sowohl einzelne Bieterverfahren isoliert zu betrachten als auch vergabeübergreifend vorzugehen. Hierzu werden die eingespeisten Daten nach zuvor festgelegten Regeln zu Statistiken oder Kennzahlen verarbeitet und auf kartellbedingte Auffälligkeiten hin untersucht. Diese Analyse basiert auf der Grundannahme, dass kartellbedingte Marktdefekte bestimmte Muster erzeugen, die durch Programme erkennbar sind und dargestellt werden können. Wesentliche Grundvoraussetzung ist es daher, diese Muster vorher abstrakt zu definieren. Das kann beispielsweise dadurch geschehen, dass für bestimmte Vergabeverfahren Benchmarks festgelegt werden, die die Grenzen eines „gesunden“ Bieterwettbewerbs widerspiegeln. Weichen die Daten von diesen ab, schlägt das Programm Alarm. Je mehr Muster vom Programm erkannt werden, umso wahrscheinlicher ist es, dass das Programm ein Kartell entdeckt hat.
Für die dritte Phase werden die einzelnen Analysen konsolidiert und in einem Frontend dargestellt. Ziel ist es, die Ergebnisse sowie die Beurteilungsschritte so zu visualisieren, dass der Programmanwender Kartellauffälligkeiten selbstständig nachvollziehen und damit die Einschätzung des Programms verifizieren kann. Denn Kartellscreenings sollen nicht die Arbeit von Compliance-Abteilungen oder Kartellrechtlern ersetzen. Vielmehr sollen sie eine Ergänzung und Vereinfachung der Arbeit für alle Beteiligten sein.
Datenauswertung wird Alltag bei Kartellbehörden
Auch die Kartellbehörden setzen mittlerweile nicht mehr nur vermehrt auf die klassischen Kronzeugenanträge und Whistleblower sondern arbeiten insbesondere an eigenen Programmen zur Identifizierung von (Bieter-)Kartellen. Die meisten Kartellbehörden haben inzwischen damit begonnen, große Datensätze zu sammeln und diese systematisch auszuwerten. Dazu gehört beispielsweise ein Projekt der britischen Kartellbehörde CMA. Ein entsprechendes Tool der Schweizer Kartellbehörde WEKO konnte bereits konkrete Erfolge verzeichnen, etwa bei der Aufdeckung des Straßenbelagskartells im Tessin. Die südkoreanische Kartellbehörde hat auf Basis ihres Bid-Rigging Indicator Analysis System Tools (BRIAS (S. 62)) mehrere Kartellverfahren eingeleitet und jeweils mit einer Bußgeldentscheidung abgeschlossen. Die griechische Kartellbehörde greift für ihr Screening-Tool auf (tagesaktuelle) Preisdaten der großen Supermarktketten für mehr als 2.000 unterschiedliche Produkte zurück. Und auch das Bundeskartellamt untersucht Märkte mittlerweile mittels Screening systematisch nach Auffälligkeiten.
Für die Entwicklung und den Einsatz von Kartellscreening-Programmen sind spezialisierte Kenntnisse sowie eine geeignete IT-Infrastruktur notwendig. Dementsprechend stellen immer mehr Kartellbehörden Datenwissenschaftler ein und etablieren spezialisierte Abteilungen, die mit dem Einsatz und der Entwicklung neuartiger Analysewerkzeuge befasst sind. Beispielsweise hat die britische Kartellbehörde ein neues Referat für Daten, Technologie und Analytik („Data, Technology and Analytics“, kurz: „DaTA“) implementiert. Die niederländische Behörde hat einen KI-erfahrenen „Chief Data Officer“ ernannt und diesem ein Team von 15 bis 20 Dateningenieuren und Datenwissenschaftlern an die Seite gestellt („Taskforce on Data and Algorithms“). Auch die EU-Kommission verfügt inzwischen über ein Referat „Datenanalyse und Technologie“ und hat die Position eines Chief Technology Officer geschaffen.
Tools können Unternehmen einen hohen Mehrwert bieten
In der Unternehmenspraxis wird das Kartellscreening bislang nur vereinzelt eingesetzt. Mangels regulatorischer Vorgaben für ein Kartellscreening ist die Einführung entsprechender Systeme derzeit noch in erster Linie eine kommerzielle Unternehmensentscheidung. Da ist es sicherlich nicht hilfreich, dass ausgereifte Softwarelösungen – soweit ersichtlich – im Markt bislang noch Mangelware sind und Unternehmen daher noch in erster Linie auf eigene Ressourcen angewiesen sind.
Um nicht den Anschluss an das digitale Kartell-Enforcement der Kartellbehörden zu verlieren, werden Unternehmen bei ihrer Compliance-Arbeit früher oder später auch in diesem Bereich nachrüsten müssen. Unternehmen können von Kartellscreening-Tools profitieren, z. B. weil sie als potenzielle Geschädigte Kartelle schneller identifizieren können. Auch für die eigene repressive Compliance-Arbeit können Kartellscreening-Tools von großem Mehrwert sein, erhöhen sie doch die Chance auf eine frühzeitige interne Aufdeckung von begangenen oder noch bevorstehenden Verstößen. Ist ein Rechtsverstoß bereits erfolgt, erhöht sich dadurch die Chance, einen Kartellverstoß als Erster den zuständigen Kartellbehörden melden und von den Kronzeugenprogrammen profitieren zu können.
Auch wenn das „Windhundrennen“ um den ersten Kronzeugenplatz nicht gewonnen wird, können implementierte Screening-Tools als Teil eines effektiven Compliance-Management-Systems bußgeldmindernd berücksichtigt werden (vgl. für Deutschland § 81d Abs. 1 Nr. 4 GWB; lesen Sie hierzu auch unseren Beitrag zu den Anforderungen an ein „angemessenes und wirksames“ Compliance-System). Nicht zuletzt können Screening-Tools Unternehmen bei der Einteilung ihrer Ressourcen durch Priorisierung der internen Kartellrevision bei besonders schwerwiegenden (Verdachts-)Fälle unterstützen.
*(vgl. hierzu z.B. den Aufsatz Dohrn/Reinhold, "Collusion by Code": Herausforderungen für die kartellrechtliche Compliance, in Wirtschaft und Wettbewerb, Heft 10, S. 540 ff.)