Automotive und Mobility02.10.2023 Newsletter

Was macht eigentlich … der Dieselskandal? Aktuelle Entwicklungen und ein Blick in die Zukunft

Zuletzt haben wir im September 2021 einen Überblick über den damals aktuellen Stand des Dieselskandals gegeben und aufgezeigt, dass die juristische Aufarbeitung auch Jahre nach dem öffentlichen Bekanntwerden der Vorwürfe noch andauert. Seit damals hat sich zwar einiges getan; abgeschlossen ist das Kapitel „Dieselgate“ aber auch heute noch lange nicht.

Sowohl zu verbraucherrechtlichen Fragen als auch zu kapitalmarktrechtlichen Ansprüchen haben die Gerichte in letzter Zeit wegweisende Entscheidungen gefällt.

EuGH macht Weg für „Thermofenster-Klagen“ frei

Prominent hat etwa der EuGH in seinem Urteil vom 21.03.2023 (Aktenzeichen: C-100/21) festgehalten, dass den Autokäufern bereits dann Schadensersatz zusteht, wenn die EU-Vorschriften zur Abgasreinigung von den Autoherstellern fahrlässig verletzt wurden und nicht erst im Falle einer vorsätzlichen und sittenwidrigen Schädigung durch den Einsatz einer illegalen Motorsteuerung. Die europarechtlichen Vorgaben zu Abgasgrenzwerten haben nämlich, so der EuGH, nicht nur regulatorische Bedeutung, sondern sollen auch ganz konkret den einzelnen Fahrzeugkäufer schützen. Bereits in seinem Urteil vom 14.07.2022 (Az.: C-128/20) hat der EuGH befunden, dass es sich bei den viel diskutierten sog. Thermofenstern – einer Motorsteuerungslogik, die die Abgasreinigung in bestimmten Temperaturfenstern verringert – um unzulässige Abschalteinrichtungen handelt – es sei denn, diese Thermofenster dienen zur Abwehr von akuten Motorschäden, was der EuGH bei der von VW eingesetzten Steuerungslogik jedoch nicht als gegeben ansah.

Der Auffassung, dass der Einsatz von Thermofenstern gegen geltendes EU-Recht verstößt, schloss sich auch das VG Schleswig an (Urteil vom 20.02.2023, Az.: 3 A 113/18), nachdem die Deutsche Umwelthilfe gegen die Genehmigung von Software-Updates durch das KBA geklagt hatte.

Der EuGH machte damit den Weg frei für Schadensersatzklagen in Deutschland wegen des Einsatzes von Thermofenstern. Die deutsche Rechtsprechung war bislang davon ausgegangen, dass die Autohersteller nur für die vorsätzliche Verwendung von Abschalteinrichtungen haften, da nur in diesem Fall das Merkmal der Sittenwidrigkeit erfüllt sei. Dem europarechtlichen Verbot von Thermofenstern, gegen das die Autohersteller möglicherweise nur fahrlässig verstießen, entnahmen die deutschen Richter bisher keine Schutzwirkung gegenüber den Autokäufern, weshalb derartige Klagen entsprechend stets abgewiesen wurden.

Grundsatz-Urteil des BGH – und Zweifel des OLG Stuttgart

Und tatsächlich dauerte es nicht lange, bis der BGH, basierend auf der Auslegung des EU-Rechts durch den EuGH, Schadensersatzansprüche wegen des fahrlässigen Einbaus von Thermofenstern im Grundsatz für begründet erklärte und dabei auch festhielt, dass die Wertminderung, die durch die möglicherweise drohende Stilllegung eines mit Thermofenster versehenen Fahrzeugs ca. 5-15% des Kaufpreises beträgt (Urteile vom 26.06.2023, Az.: VIa ZR 335/21, VIa ZR 533/21 und VIa ZR 1031/22).

Der BGH entschied dabei jedoch nur zur abstrakten Rechtslage, da es sich um Entscheidungen in Musterfeststellungsprozessen handelte. Die Frage, ob die von den einzelnen Fahrzeugherstellern eingesetzten Steuerprogramme wirklich Thermofenster im Sinne der einschlägigen EU-Verordnungen darstellen und ob die Hersteller beim Einbau der Thermofenster jeweils fahrlässig gehandelt haben, wird von den unterinstanzlichen Gerichten zu entscheiden sein. Die Hürden für die Autohersteller sind allerdings hoch, denn sie müssen darlegen und beweisen, dass sie nicht vorsätzlich gehandelt und nicht fahrlässig verkannt haben, dass ein solches Thermofenster im Fahrzeug verbaut ist.

Das OLG Stuttgart zeigt sich gleichwohl skeptisch, was die Haftung der Daimler AG gegenüber Autokäufern für die in Diesel-Fahrzeugen zum Einsatz gekommenen Thermofenster betrifft. In einer vorläufigen Einschätzung vom 27.07.2023 (Az. 24 U 1796/22 u.a.). stellte sich das Gericht auf den Standpunkt, die Daimler AG sei einem unvermeidbaren Verbotsirrtum unterlegen, da das KBA die Thermofenster genehmigt hätte. Zuvor hatte das LG Stuttgart der Klage wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung noch stattgegeben (Urteil vom 28.01.2022, Az. 17 O 711/19). Eine endgültige Entscheidung des OLG Stuttgart steht noch aus.

Auch Investoren verlangen Schadensersatz

Wegen unterbliebener und verspäteter Kapitalmarktinformation über den Einsatz von unzulässigen Abschalteinrichtung sehen sich auch Aktionäre der VW AG in ihren Rechten verletzt. Im Herbst 2016 ging daher eine regelrechte Flut von Anlegerklagen beim LG Braunschweig ein, mit denen auch institutionelle Investoren wie Investment- oder Rentenfonds Schadensersatz gegen Volkswagen geltend machten. Das OLG Braunschweig hat die tausenden von Einzelklagen in einem Kapitalanlegermusterverfahren zusammengefasst, in dem die wesentlichen Fragen seit Frühjahr 2017 geklärt wurden. Im Juli 2023 erließ das OLG Braunschweig nun einen Beweisbeschluss, auf dessen Grundlage nach fast sieben Jahren schriftsätzlichem Schlagabtausch in die Beweisaufnahme eingetreten werden soll. Auf der Liste steht die Vernehmung von insgesamt 86 Zeugen, darunter prominente Namen wie Ex-VW-Vorstandschef Prof. Martin Winterkorn. Die Durchführung der Beweisaufnahme wird mindestens das gesamte Jahr 2024 in Anspruch nehmen.

Mitverklagt ist im Braunschweiger Kapitalanlegermusterverfahren auch die Konzern-Dachgesellschaft Porsche SE, gegen die zusätzlich ein eigenes Kapitalanlegermusterverfahren vor dem OLG Stuttgart läuft. Die Stuttgarter Richter waren jedoch etwas entscheidungsfreudiger und erließen bereits im März 2023 einen Musterentscheid, in dem u.a. festgestellt wurde, dass eine etwaige Kenntnis von VW-Vorstandsmitgliedern bezüglich des Einsatzes von Abschalteinrichtungen nicht ohne weiteres den – unter Umständen personenidentischen – Vorstandsmitgliedern der Porsche SE zugerechnet werden kann. Eine Pflicht der Porsche SE zur Veröffentlichung von Kapitalmarktinformationen über den Einsatz von Abschalteinrichtungen lehnte das OLG Stuttgart daher im Ergebnis ab. Die Investoren können ihre Ansprüche gegen die Porsche SE nun vor dem BGH weiterverfolgen.

Größenordnung der finanziellen Auswirkungen weiter nicht absehbar

Auch abseits der milliardenschweren Schadensersatzforderungen der Investoren gegen die VW AG und den bereits ausgezahlten und noch anstehenden Entschädigungszahlungen an Autokäufer bleibt es teuer für den VW-Konzern. Wie hoch die Gesamtbilanz des Dieselskandals für Volkswagen ausfallen wird, ist auch bald 10 Jahre nach dem Bekanntwerden der Verstöße noch völlig offen.

Bereits 2018 verhängte die Staatsanwaltschaft Braunschweig ein Rekordbußgeld in Höhe von einer Milliarde Euro gegen VW, wovon satte 995 Millionen Euro auf die Abschöpfung unrechtmäßig erlangter wirtschaftlicher Vorteile entfiel. Doch auch in anderen Jurisdiktionen musste VW astronomische Beträge bezahlen:

In den USA hat der Dieselskandal den VW-Konzern bereits über 20 Milliarden US-Dollar gekostet. Hinzu kamen jüngst weitere 85 Millionen US-Dollar – eine Strafzahlung in dieser Höhe, die der Bundesstaat Texas verhängt hatte, haben VW und das Tochterunternehmen Audi im Mai 2023 akzeptiert.

Im nördlichen Nachbarland Kanada musste VW bereits relativ früh milliardenschwere Zahlungen leisten. Im Jahr 2016 verhängten die Behörden Strafzahlungen in Höhe von fast 2,5 Milliarden kanadischen Dollar; 2020 kamen weiter 135 Millionen Euro hinzu.

Wie viel darüber hinaus für Rechts- und Beratungsdienstleistungen im Zusammenhang mit dem Dieselskandal weltweit angefallen ist, ist nicht im Einzelnen bekannt. Fest zu stehen scheint jedoch, dass die vermeintlich großzügig bemessenen Rückstellungen in Höhe von ca. 23 Milliarden Euro, die Volkswagen 2016 gebildet hatte, längst aufgezehrt sein dürften.

 

Hier geht es zum ersten Überblick über den Dieselskandal (2021).

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Maximilian Reichl

Maximilian Reichl

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